Eiswinter 1963: Als drei Lübecker Frachter im Ostseeeis feststeckten
Der Januar 1963 war der kälteste im 20. Jahrhundert. Wochenlange Minustemperaturen ließen die Ostsee langsam zufrieren. Im Februar wurde es nicht besser. An den Küsten gingen Menschen auf dem Eis spazieren, und Bürger der DDR versuchten, über die zugefrorene Ostsee von Mecklenburg nach Schleswig-Holstein zu flüchten – was einigen auch gelang. Von einem Abenteuer der besonderen Art erzählt der Travemünder Peter Mull. Als damals 23-Jähriger hatte er als Maschinenassistent auf dem Lübecker Frachter „Castorp“ angeheuert. In Finnland wurde Holz geladen, anschließend ging es zurück in den Heimathafen Lübeck. Doch am 19. Februar war die Fahrt zu Ende: Das Schiff blieb in der Lübecker Bucht südlich von Fehmarn im dicken Eis stecken, ein Weiterkommen aus eigener Kraft war nicht mehr möglich. Sechs Tage musste die 15-köpfige Crew fast mitten auf der Ostsee ausharren, bis Hilfe kam.
Auch in Travemünde gingen im Winter 1962/1963 die Menschen auf der zugefrorenen Ostsee spazieren. © Quelle: Archiv Rolf Fechner
„Auf dem Rückweg kam plötzlich ein Eissturm auf, das Schiff vereiste an den Bordwänden zusehends, und durch den starken Sturm zog sich das Eis auf der Ostsee immer mehr zusammen“, erzählt Peter Mull im Gespräch mit den LN. Die Fahrt sei immer langsamer geworden, bis die „Castorp“ schließlich in der Lübecker Bucht steckenblieb. Zwei andere Schiffe der damaligen Reederei Lübeck Linie, die „Fredenhagen“ und die „Wickede“, die ebenfalls von Finnland in die Hansestadt unterwegs waren, ereilte das gleiche Schicksal. „Sie steckten ganz in der Nähe unseres Frachters im Eis. Von den Schiffen aus konnten wir bei strahlend blauem Himmel den Kleiderbügel der sich damals noch im Bau befindlichen Fehmarnsundbrücke erkennen“, erinnert sich der Travemünder.
Gefahr für die Seeleute und die Schiffe hätte wegen der Robustheit der Frachter nicht bestanden: „Es brach keine Panik aus.“ Und genügend Proviant an Bord habe es gegeben, um einige Tage ausharren zu können. „Wir sind von der ‚Castorp‘ heruntergestiegen, auf dem Eis spazieren gegangen und haben Fußball gespielt, um uns die Zeit zu vertreiben“, erzählt der 83-Jährige. Die Deckleute hätten damit begonnen, die Eisschicht an den Bordwänden abzuschlagen. Am sechsten Tag sei dann der Schlepper „Greif“ aus Lübeck gekommen und habe die „Castorp“ an eine Schleppverbindung genommen. „Die haben uns ausgesucht, weil unser Schiff das breiteste von den dreien war“, sagt Peter Mull. Anschließend zog der Schlepper den Frachter langsam durch die Lübecker Bucht und die Trave in den Heimathafen Lübeck. Die „Fredenhagen“ und die „Wickede“ konnten ihre Fahrt durch die aufgebrochene Rinne im Eis selbstständig fortsetzen.
„Als wir am 25. Februar am Konstinkai eintrafen und die Ladung löschen konnten, waren alle froh, das Eisabenteuer ohne Schaden überstanden zu haben“, erzählt Peter Mull. Die 1950 in der Lübecker Flenderwerft gebaute „Castorp“, die in den ersten fünf Jahren „Possehl“ hieß, benannt nach dem Lübecker Senator Emil Possehl (1850 – 1919), fuhr noch einige Jahre für die Reederei Lübeck Linie, bis sie 1971 nach Schweden verkauft und 1972 im südschwedischen Städtchen Ystad verschrottet wurde.